,Der Dicke soll sich muten‘ denke ich und hasse mich dafür. Der Dicke ist ein freundlich aussehender Mann um die 50. Er hat ein Headset auf dem Kopf und spricht mit einer Frau. Alle anderen 34 Teilnehmer des Zoom- Calls kennen die Spielregeln. Reinkommen, halblaut „Hallo!“ sagen, dann mute drücken. Ich starre den ungemuteten Mann an. Der Zufall will, dass ausgerechnet sein Bild direkt neben meinem angezeigt wird. Ich bin die virtuelle Sitznachbarin des Störenfriedes. Alle, die auf ihn starren, werden zwangläufig auch auf mich starren. Die nächsten drei Stunden. Der Zoom- Algorithus meint es nicht gut mit mir.
Im Bild neben dem Dicken sitzt ein unrasierter ca. 60 Jahre alter Fahrschüler in einem gelben Wohnzimmer. Gewagte Tapete, denke ich, irgendwas Savannenartiges. Mit Leopardenapplikationen und beleuchtetem Bild. Immerhin ist er gemutet.
Ich öffne die Galerieansicht. 35 Teilnehmer, 35 Hintergründe. Ich sehe Jugendzimmer, Küchen, ein paar Büros und Sofas. Auf einem der Sofas wird ein jüngerer Mann gleich in den 30 Minuten Pause die Beine hochlegen. Die Kamera lässt er an.
Und wir alle sehen Amelie, wie sie das Handy mit uns in der Hand locker hin und her schwingend zügigen Schrittes einen Drogeriemarkt betritt. Während sich die Kiddos im Chat schon fragen, ob auch sie ihre nächste Theoriestunde einfach im Bus und beim Shopping verbringen sollen (Amelie lebt‘s vor) entfernt der Host sie aus dem Meeting. Schade. Alle hier wollten wissen, was sie einkauft.
Das hier ist meine ersten Führerschein- Theoriestunde seit ziemlich genau 20 Jahren. Coronabedingt per Zoom, und: ich gebe es zu, ich bin nicht traurig drum, mir den Vortrag auf meiner Küchenbank anhören zu können. Mit einigen hier hätte sich evtl ein netter Smalltalk ergeben, in der halben Stunden Pause zwischen den beiden Doppelstunden; neben anderen hätte ich aber auch irgendwie nicht so gern sitzen wollen.
,Wo kommt man eigentlich als erwachsener Mensch noch in solche Situationen heutzutage…‘, frage ich mich, während der Fahrlehrer an die halbstarken Klasse- AM- Bewerber appelliert, auch auf dem Weg in die Schule aufm Roller stets Moppedkleidung zu tragen.
,… und: wie schräg ist es, dass ich nach Monaten der Pandemie heute zum ersten Mal in einen Zoom- Call muss?‘
Ich fühle mich wie ein Computer- Noob zwischen den ganzen beheadsetteten Typen, die sich per Shortcut muten, digital die Hand heben und den Onlinemeetingknigge so viel besser beherrschen als ich.
Ich beschließe, einfach in dieser Runde die zu sein, die drei Stunden debil in die Kamera lächelt, aus Verlegenheit zwei Flaschen Wasser trinkt (aus dem Glas natürlich, so viel Meeting- Knigge muss sein) und ab und an auf Fragen des Hosts hin schüchtern die analoge Hand vor der Kamera hebt. Damit komme ich ganz gut durch, werde (im Gegensatz zu den Strebern aus dem Chat) nicht drangenommen und traue mich zum Schluss sogar, mich kurz zu unmuten und halblaut: „Tschüß!“ zu nuscheln, während ich den Fingern schon auf dem „Verlassen“- Knopf habe.
Morgen ist direkt noch eine Doppelstunde. Dann komme ich vielleicht sogar dazu, euch was über den Inhalt zu schreiben. Heute musste ich mich erstmal mit dem Gedanken anfreunden, für 34 fremde Menschen „die mit der gestreiften Tapete“ zu sein, „…die den ganzen Abend Brand hat, wie ne Bergziege“. Oder so.
Vielleicht bin ich morgen die, die dem Dicken sagt, dass er sich muten soll.
PS: Auf was zur verdammten Drinnie- Hölle habe ich mich hier eigentlich eingelassen?
PPS: Nächste Woche ist Erste- Hilfe- Kurs. In Präsenz.