Sommer 1990. Ich sitze mit einer Schale Pistazien auf dem Schoß auf der Treppe eines kleinen holländischen Ferienhauswohnzimmers. Über die Köpfe meiner Eltern starre ich gebannt auf den Röhrenfernseher. Deutschland spielt. Die frisch wiedervereinigte Mannschaft rund um den Kaiser, die einige für “auf Jahre hinaus unschlagbar” halten, geht raus, spielt Fußball und zieht ins Finale ein. Ich träume davon, auch so zu fliegen wie Ilgner. Von hier, von der Treppe aus, sehe ich ihn besser als im Stadion. Ich bestaune sein lila Trikot und seine Handschuhe. Den Mund krebsrot von zu vielen aufgeregt geknusperten Pistazien freue ich mich über Kohlers Grätschen und Häßlers Dribblings und darüber, dass ich noch aufbleiben darf, als Andi Brehme gegen Goycochea flach ins Eck verwandelt.
Dass ausgerechnet diese WM in ausgerechnet diesen Sommer fällt ist für mich ein riesiger Glücksfall. Ich bin sieben, und ich bin fußballverrückt. Mein erster richtiger Trainingsanzug, Ballonseide, der Vereinsname in weiß auf dem Rücken geflockt, ist mein ganzer Stolz. In der “auf Zuwachs gekauften” Kluft grätsche ich durchs Wohnzimmer oder höre auf dem Weg zum Fußballturnier die samstägliche Bundesligakonferenz, auf der Rückbank von Papas Corolla.
Dass mich der Fußball so schnell nicht wieder loslassen wird ist damals schon vollkommen klar. Meine gesamte Schulzeit verbringe ich zwischen Bolz- und Trainingsplatz, pöhle auf dem Schulhof und im Kinderzimmer, zocke WorldCup auf dem Gameboy und tausche im Bus zwei Ulf Kirstens gegen einen Guido Buchwald. Meine Torwarthandschuhe sind Schätze, mein Tornister ist ein Torpfosten.
Das ist was Ernstes, zwischen dem Fußball und mir. Ich investiere mein Taschengeld in Paninibilder und kenne meine Fußballkarten stapelweise auswändig. Später lese ich mehr BravoSport als Mathebuch und besitze mehr Stollen- als Straßenschuhe. Fußball ist alles.
Inzwischen genieße ich die Schönheit des Spiels. Dabei muss ich nicht in jedes taktische Detail gehen, habe aber auch nichts gegen die Generation Laptoptrainer. Das Spiel hat sich verändert. Ich freue mich, wenn ich erkenne, wie ein Sechser abkippt oder ein Außenverteidiger sich einen guten Packing- Score erpasst. Aber ist es das, was mich damals angefixt hat? Natürlich nicht.
22 Menschen und ein Ball, das ist es. Der Kern des Spiels. Viel mehr braucht es nicht; Flutlicht vielleicht, und ne Stadionwurst, einen doofen Spruch unter Freunden, schimpfende Rentner und verregnete Unentschieden; jedenfalls das Gefühl, dass das hier für uns alle ist, dass jeder mitreden kann. Fußball verbindet. Es gibt immer irgendetwas zu tratschen, zu fachsimpeln und zu schlauschwätzen. Und wenn man doch mal nichts zu sagen weiß kann man ja immernoch finden, sie müssten mehr über Außen spielen. Und im Zentrum, da müssen sie kompakter stehen. Ach, und die Standards: Sachma: Was war denn da heute wieder los?
Heute beginnt die Fußball-WM, sagt mein Kalender. Sie wird wohl weitestgehend unbeachtet an mir vorbeiziehen. Nicht, weil ich mir einbilde, dass es irgendeinen Sponsoren oder Scheich interessiert, ob ich mir nun das bestimmt höchstpackende Eröffnungsspiel zwischen Katar und Ecuador anschaue oder nicht, sondern weil sich das ganze Turnier für mich so anfühlt wie ein einziges “Katar gegen Ecuador”. Vollkommen belanglos.
Kein Traumtor in allerletzter Sekunde kann mich mit einer in die Wüste vergebenen Weltmeisterschaft versöhnen. Kein blitzschnell erkanntes Deliberate Play kann darüber hinwegtäuschen, dass alles daran falsch ist, einem Land ohne echte Fußballkultur, ohne ausgeprägte Fankultur, sogar ohne Stadien, dieses Turnier zu verkaufen. Ich weiß, dass man an dieser Stelle auch über die Vergabe unseres Sommermärchens 2006 reden müsste. Ich weiß, dass der Ausverkauf des Fußballs kein 2022er Ding ist. Aber nie war es so offensichtlich wie in diesem Winter. Nie war mir egaler, wen Hansi nominiert, nie war ich so weit davon entfernt, Paninis zu sammeln, die Kicker- Sonderausgabe zu kaufen und ein Familien- Tippspiel anzuleiern.
Erst fand ich das ziemlich schade. Inzwischen finde ich mich damit ab. Vielleicht schaue ich auf YouTube alte WM- Klassiker, während Herr Infantino dem Scheich dankt und zu einem fantastischen Turnier gratuliert. Vielleicht gehe ich ins Theater, während Götze noch einmal eine Hereingabe von links direkt verwandelt. Vor den Fernseher zieht mich jedenfalls nichts. Mein WM-Feuer ist erloschen, erstickt von Dokus über moderne Skaverei und klimatisierten Ledersitzen. Und ich habe keine Ahnung, ob ich es noch mal neu entfachen kann.
Wäre ich sieben, ich würde jetzt nicht mit meinen Eltern im Sommerferienhaus auf der Treppe sitzen, den Mund pistazienrot. Wer weiß, ob es am Ende überhaupt so was Ernstes geworden wäre, zwischen dem Fußball und mir.
Wie gut, dass damals noch nicht Katar war, sondern Italien. Und wie gut, dass Goycotchea zwar alles wusste, aber halten konnte er ihn nicht.