Der Regen peitscht über die Häuser im Dorf. Schräg von der Seite schlagen dicke Tropfen auf meine eiskalten Wangen. Ich wende den Kopf ab und kneife die Augen zusammen. Fies ist es heute hier draußen. Richtig fies. Die blau- weiße Regenjacke klebt an meinem Pullover, die Hände werden langsam kalt. Ich werfe meine Torwarthandschuhe neben die Eckfahne, dann laufen wir los. Von der Fahne schräg rüber an die andere Seite der Mittellinie, rechts herum, am Tor entlang und unserem Start vorbei wieder quer über den Platz, dann andersrum. Ich weiß nicht, wie oft wir das jetzt machen werden, ich weiß nur, dass ich Anschluss halten will, wenn der, der vorweg läuft, auf den Querbahnen das Tempo ordentlich anzieht. „Los! Kommt!“ ruft Torsten dann, und das Geräusch, das die Ärmel seiner Regenjacke beim Laufen machen, wird hörbar schneller.
Bis auf das gleichmäßige Rascheln unserer Jacken und die stampfenden Schritte, wenn wir langsamer werden, ist es still. Alle hier sind mit sich selbst beschäftigt, mit dem Regen und damit, dran zu bleiben.
Irgendwann ist es geschafft. Ich darf mir die Handschuhe schnappen.. Bevor ich sie anziehe und ins Tor gehe quetsche ich das Wasser aus dem Schaumstoff und es entsteht dieses Geräusch, das ich, genau wie die joggenden Regenjacken, auch 20 Jahre später noch unter hunderten erkennen könnte.
Obwohl es kalt ist, obwohl es regnet und obwohl unser Tag lang war, bis wir abends um acht Uhr auf dem Kunstrasen ankamen: wir alle sind gerne hier. Wir alle tun, was wir lieben; wir laufen und schießen, passen und schubsen, rufen und schnaufen und sind froh, die anderen Mädels um uns zu haben. Die Mädels und na klar: den, der vorweg geht, der uns anfeuert und wild gestikuliert, wenn wir nicht ordentlich über außen spielen, der sich die pitschnasse Kapuze immer wieder aus dem Gesicht zieht, ab und an einen trockenen Witz macht und nach 90 verregneten Minuten genau wie wir froh ist, unter die warme Dusche zu kommen.
Dass auch bei solchem Fritz- Walter- Wetter regelmäßig eine beachtliche Zahl von Spielerinnen dreimal die Woche ihre Herbstabende auf dem Sportplatz verbringt ist nicht selbstverständlich. Dazu braucht es ein gutes Team, aber eben auch einen guten Coach, der voran geht und keinen Zweifel aufkommen lässt, dass es selbstverständlich ist, sich auch bei Wind und Wetter reinzuhängen. Jemanden, dem alle an den Rand ihrer eigenen Komfortzone folgen. Jemanden wie Torsten.
Als ich kurz vor Weihnachten von seinem Tod hörte war ich vollkommen vor den Kopf gestoßen. Es passte überhaupt nicht zu meinem Bild dieses kräftigen Kerls, den so schnell nichts ernsthaft erschüttern kann. Dass es ausgerechnet ihn erwischt haben soll: einfach nicht vorstellbar.
Natürlich tauschte ich mich sofort mit Menschen aus, die ihn kannten, und die genau wie ich vollkommen fassungslos waren, über diese Nachricht, und sofort kamen uns, als wir so über die Zeit damals plauderten, Anekdoten in den Sinn, die wir mit Torsten verbinden.
Das Drama rund um den nicht gewonnenen Fairnesspokal beim Sommerturnier in Schweich an der Mosel fiel uns ein – Riesenfrechheit. Wissen wir alle. Sollte man noch mal rechtlich prüfen… Ich dachte an Abende in holzvertäfelten Partyräumen bei mittelmäßigem Schlager und die Momente, in denen plötzlich zwischen den im Laufe eines bierseligen Abends zwangsläufig gewälzten ernsten Themen an der Theke kurz sehr laut mitgegrölt werden musste. Und ich dachte an die Szene vom Anfang; wie Torsten vorläuft und wir dranbleiben wollen. Obwohl das alles angeblich über 20 Jahre her sein soll sind die Erinnerungen plötzlich erstaunlich lebendig.
Unsere Wege haben sich in der Zeit meines Lebens getrennt, in der es spannend wurde und in der ich anfing, so richtig erwachsen zu werden. Ich hatte das Abi im Sack, war im Job angekommen, Zuhause ausgezogen und neben dem Fußball wurden auf einmal, zwischen Früh-, Spät- und Nachtdienst, andere Themen wichtig.
Ganz weg war der Fußball nie. Auch an die Zeit mit dem Team um Torsten habe ich oft gedacht und mich gefragt, was der alte Haudegen wohl so treibt. Ob er noch immer auf Sportplätzen an Seitenlinien steht oder wie ich weitergezogen ist, zu anderen Hobbies.
Wir haben uns zwar viele Jahre nicht gesehen, aber Torsten war eben einer dieser Menschen, die in Erinnerung blieben, auch wenn man sie viele Jahre nicht sah.
Sein lautes, herzhaftes Lachen, seine Fußballbegeisterung, seine raue Stimme, sein Wille, sich und sein Team immer noch ein bisschen besser zu machen, seine Zuverlässigkeit, seine Entschlossenheit, sich für seine Mannschaft einzusetzen und sein sympathischer Bollerkopp haben mich geprägt.
Nicht nur in Sachen Fußball durfte ich von ihm abgucken. Auch an meiner Berufswahl ist er nicht ganz unschuldig. Torsten war Feuerwehrmann. Er hat seinen Beruf geliebt, ab und zu aus dem Blaulicht-Business erzählt und dabei immer eine Begeisterung transportiert, die nicht nur mich am Ende angesteckt hat. Er hat auch dafür gesorgt, dass ich nicht bei der Feuerwehr oder im Rettungsdienst gelandet bin, denn: “Annika, du willst doch nicht dein Leben lang dicke Ommas aus dem siebten Stock tragen, geh lieber zur Polizei, die stehen daneben, gucken, wie wir die Tür knacken und fahren dann wieder. Da bist du besser aufgehoben!“ Und dann hat er gelacht. Und ich hab gelacht. Und meine Bewerbung abgegeben.
Torsten, dass du jetzt, zwei Jahre vor deiner Pensionierung viel zu früh gestorben ist; ich kann es kaum glauben. Und ehrlich gesagt sehe ich auch noch nicht ein, dass ich es glauben muss.
Ich hätte dir und deiner Anja mehr Zeit gewünscht. Viel mehr Zeit.
Und ja: ich hätte dich echt gern mal wieder getroffen. Aber vielleicht klappt’s ja. Irgendwann. Anderswo. Dann regeln wir als erstes die Sache mit dem Fairnesspokal und haben sicher auch sonst viel zu erzählen.
Danke für Alles, Trainer. 🖤
