Die größte Herausforderung, damit werde ich wohl leider Recht behalten, könnte auf dieser Reise das Wetter werden.
Heute jedenfalls soll es trocken bleiben, auch wenn der Himmel grau und grimmig und finster über dem Brummi hängt und es ständig so aussieht, als müsste man irgendwo Unterschlupf finden, falls es schütten beginnt.
Voller Vertrauen in die Wetter- App packe ich das Fahrrad und den Anhänger und mache den Hund und mich startklar. Schon vor dem Urlaub habe ich auf Komoot eine Runde um den Schaalsee zusammengebastelt. Die gut 45 Kilometer sollten sich entspannt an einem Nachmittag absolvieren lassen, auch wenn der Fifi zwischendurch immer wieder laufen darf und ich das Tempo auf Hundejogging- fähige 8-10km/h reduzieren muss.
Ich habe die Tour so gewählt, dass sie erst durch die Wälder und am Ende dann durch Zarrentin führt. Davon verspreche ich mir die Möglichkeit der Stärkung relativ kurz vor der Rückkehr zum Platz. Ich bin so ein Fuchs.
Schon auf der Anfahrt zum Campingplatz war mir die Landschaft hier als seltsam kleinteilig hügelig aufgefallen. So dermaßen kleinteilig, als hätte ein Riese beim Auslegen des Teppichs nicht recht aufgepasst und müsse nun zur Begradigung noch einmal mit großen Schritten die letzten Unebenheiten beseitigen. Offenbar hat er sich aber nach dem Auswerfen der Auslegeware nicht weiter an der Hügeligkeit gestört. Die Wellen jedenfalls hat er dagelassen. Und so radele ich immer wenige Meter auf und ab und versuche, den Schwung der kleinen Abfahrten über die nächste Minikuppe zu retten, während ich pausenlos denken, dass man sich die ganze Hügeligkeit einfach sparen und geradeaus fahren sollte. Aber der Schaalseeregionbewohner mag es wohl gern wellig. Jedenfalls sieht er gar nicht ein, durch ein bisschen mehr Mühe beim Straßenbau den einen oder anderen Hubbel wegzuschaufeln. Oder er pflegt einfach seine Hügeltradition.
An den hier obligatorischen Gutshöfen radele ich vorbei, fahre durch heideartige Landschaften mit sandigem Boden und durch Felder, die bis hinter den nächsten Hügel reichen (was am Ende auch irgendwie hier keine Kunst ist, um ehrlich zu sein. Mal mehr mal weniger nah am Wasser schlängelt meine Route sich am Ufer entlang, ich sehe Ferienwohnungen in Seedorf und Kittlitz und Kneese und erschrecke immer wieder, wie tief an den Laternen die NPD Plakate hängen. Und wie viele davon.
Ein Stück westlich vom Kneeser Ortsrand stoße ich mitten zwischen Feldern und Wiesen auf ein Mahnmal zu Erinnerung an die Grenztoten. Hier steht, so ergibt meine Internetrecherche, ein originales Stück des Grenzzauns, den am 04. August 1983 der aus Wismar stammende Harry Weltzin zu überwinden versuchte, um in die damalige Bundesrepublik zu fliehen. Der Ingenieur geriet bei diesem Versuch, ausgerüstet mit Kompass, Spaten und Bolzenschneider durch Untergraben des Zauns die DDR zu verlassen, in eine an der Grenze installierte Selbstschussanlage und wurde tödlich getroffen. Heute erinnern zwei Portraits und eben ein Stück Originalzaun an sein Schicksal und macht zumindest ein bisschen greifbar, wie furchtbar diese Grenze und ihre Verteidigung für die Menschen damals gewesen sein muss. An der Bank neben dem Mahnmal mache ich eine kleine Rast und lasse den Blick schweifen. Viel beschaulicher, viel friedlicher, kann ein Stück Natur kaum sein. Eine Herde Rinder macht in einer hoch stehenden Wiese Siesta. Ein Wanderweg windet sich durch die Wiesen. Vögel nerven. Sonst ist hier: nichts. Und erst recht nichts, was darauf hin deuten könnte, dass hier einst eine tödliche Grenze zwei Länder trennte, und dass, wer sich von dem einen in das andere abzusetzen versuchte, eiskalt von Maschinen erschossen wurde.
Gut, dass diese Zeiten lange vorbei sind, und gut, dass wir an die Toten mit Mahnmalen wie diesem erinnern.
Als ich in Kneese auf die Kreisstraße treffe, erkenne ich nur am etwas überdimensionierten Hinweisschild, dass ich mich jetzt in Mecklenburg-Vorpommern befinde und “den echten Norden” verlassen habe. Ansonsten kann ich beim besten Willen keinen Unterschied zum “ehemaligen Westen” ausmachen. Die Landschaft ist genau so hügelig, die Straßen sind genauso schmal und die Alleen genauso baumig. Und wisst ihr was, ob das hier vor einer Generation mal “Westen” oder “Osten” war, ist mir inzwischen mehr als latte. Nicht die Geschichte, die damit zusammenhängt, die sollte ich dringend noch besser verstehen. Aber im Hier und Jetzt ist Osten und Westen für mich kein Maßstab, kein Gefühl. Ich verbinde damit eigentlich nichts mehr. Und: sind wir mal ehrlich… für mich als Pottkind ist alles oberhalb Bremens Norden, alles östlich von Bielefeld Osten und alles südlich von Frankfurt Süden. Naja, und Westen, das ist die holländische Grenze. Aber die ist inzwischen ja zum Glück auch nicht mehr spürbar.
In Zarrentin mache ich mich, erst analog, dann auch digital, auf die Suche nach Verpflegung. Der örtliche Pizzamann wirbt bei google mit Pizzen in Herzchenform und scheint zu versuchen, damit von den seltsamen Belägen abzulenken. Der Grieche ist pleite. Alles spitzt sich also auf einen Imbiss namens Bi-Zarr zu. Eine Karte gibt es hier ebensowenig wie Cola Zero. Die freundliche Bedienung im dezenten Leopardenmusteroberteil schlägt vor, anstelle der Cola Zero einfach Cola und Fanta zu mischen, dann wär’s ja auch nicht so süß. Auch wenn ich der Argumentation nur zum Teil folgen kann entscheide ich mich für die Spezi und lasse mir vom Mittagstisch “Curry mit Hähnchen, aber das geht heute irgendwie nicht so gut” abraten. Stattdessen gibt es Currywurst mit Pommes – da kann man ja irgendwie nicht viel falsch machen. Bi-Zarr finde ich dann jedenfalls, dass hier eine bis zur Schrumpeligkeit totgegarte Krakauer, liebevoll mittig durchgebrochen und mit Curryketchup übergossen, als Currywurst durchgeht. Das Pottkind in mir hofft inständig, dass die Bedienung nachher nicht fragt wie es geschmeckt hat. Als Antwort lege ich mir wahlweise “Im Ruhrgebiet überlebt ein Imbiss damit völlig zurecht nicht einen Sommer” oder “Gut, danke!” parat. Mein Glück ist: sie fragt nicht.
Da hier “im Osten” Softeis eine Sache zu sein scheint kröne ich das Mittagessen mit “einmal gemischt für zwei Euro”, das ich an einem ausgestorbenen Marktplatz in einem Dekoladen mit Hermes- Shop und Schnelltest- Angebot bekomme. Die Infrastruktur hat sich hier, wie in so vielen ländlichen Gegenden, wirklich auf das Allernötigste zusammengeschrumpft. Softeis scheint zum Glück Teil dieses Allernötigsten zu sein.
Mit Schokoresten am Mund lasse ich die Dorftristesse hinter mir und strampele am See entlang zurück auf den Campingplatz, wo der Hund und ich uns dann trotz des bedeckten Wetters kurz die Füße kühlen.
Urlaubstag zwei endet mit Pommes im Bauch, einem müden Hund und einem halb vollen Fahrradakku. Und auch wenn ich mir heute Abend wieder vor dem Auto den Arsch abfriere: ich werde nicht klagen und vielleicht ist einfach auch alles genau so gut, wie es ist.