Understatement ist nicht die Sache derjenigen, die vor vielen Jahren beschlossen haben, zwischen Merlimont und Cucq in unmittelbarer Strandnähe eine Ferienhaussiedlung zu bauen. Beim Blick auf die Karte sieht man ein durchgeplantes, sich fächerartig vom Strand in die Dünen ausbreitendes Gebilde aus schnurgeraden Straßen und halbrunden Querstraßen. Alles hier läuft auf die Promenade zu, als wäre sie ein Paradeplatz, auf dem man allsommerlich zum großen Zapfenstreich bliese, auf einem Baguette, vermutlich, oder dem Softeishörnchen.
Genauer gesagt laufen die Straßen eher auf einen großen Parkplatz zu. Der jedenfalls befindet sich exakt dort, wo man eigentlich eine Promenade vermutete.
Was im Sommer Kern eines beachtlichen Verkehrsproblems sein dürfte, wenn sämtliche Ferienhausbesitzer der Gegend ihre Renaults packen und die ganze Familie nahe der Softeisbude am knapp 500m breiten feinen Sandstrand abzuwerfen ist jetzt derart verlassen, dass der Kumpel, dem ich ein Video der Plattenbauromantik schicke, mich im Sperrbereich eines Atomschlags vermutet.
Ein bisschen hat er Recht. Stella Plage ist gerade nicht die pulsierende Mitte einer überbelegten Urlaubshochburg, die sie so gern wäre. Stella Plage ist ein seelenloses Stück Erde mit einem vollkommen überdimensionierten Straßennetz, das sich verzweifelt wie eine riesige Betonkrake vom Strand aus an den nach außen hin immer pittoresker werdenden Ferienhäußchen festklammert. An der Softeisbude am verlassenen Promenadenparkplatz schlägt das Betonkrakenherz. In der Vorsaison hält sie Krakenwinterschlaf. Die Plattenbauten drohen sie langsam aber sicher von allen Seiten zu erdrücken. Die Baustellen, bzw die traurigen Versuche, alten Beton mit neuem Beton aufzuhübschen, haben genau so lange keine Arbeiter mehr gesehen wie die Friterie Kunden. Bunte Umkleidekabinenhäuschen drängen sich strandseits so nah an den Rücken der Krake, dass sie die Tristesse hinter der Parkplatzwand nicht sehen müssen. Der Imbiss am Strand in Form einer Schiffsbrücke versucht verzweifelt in See zu stechen. Ich kann es verstehen. Wir alle wollen hier nicht sein. Jetzt nicht, und auch nicht wenn Horden nölender Ferienhauskinder hier im Sommer mit unter den Arm geklemmten Schwimmtieren tropfende Softeisetüten erquengeln, deren Inhalt vor dem ersten Schlecken zischend auf den glühenden Parkplatz tropft.
Glos Versuche, die bunten Strandumkleiden instagramable abzubilden, scheitern an den sich aus allen Ecken ins Bild drängenden Plattenbauten. Wenn sie das nicht niedlich aussehen lassen kann muss ich mein Handy gar nicht erst zücken.
Wir setzen uns auf die Räder und fahren noch ein paar wilde Runden im Kreis mitten über die Hauptstraße.
Nach unserer Ankuft auf dem nahezu verwaisten Campingplatz hatten wir uns sofort aufgemacht zu den Robben nach Berck. Der Weg dorthin hatte alles gegeben uns diesen Ausflug nach Kräften zu vermiesen. Radfahrerfeindliche Hauptstraßen, plötzlich endende Alibiradwege von ungeheuren 50cm Breite, Radwegparker und eine Routenführung durch die sandigste Düne Nordfrankreichs – nichts hatte uns aufhalten können. Nach einer Stunde und einigen Nahtoderfahungen standen wir in Berck und beobachteten eine Gruppe Robben, die in unmittelbarer Strandnähe bei einsetzender Flut ihre niedlichen Robbenflossen in die Luft reckten als hätten sie keine Lust auf nasse Füße. Ein recht ambitioniertes Ziel für jemanden, für den die Natur vorgesehen hat, auf einer mehrmals am Tag überspülten Sandbank zu wohnen.
Als die Flut den Robben unausweichlich nasse Füße besorgt hatte führte unser Weg nach Berck. Eine Art Beton- Kühlungsborn mit Haudrauftouristenbespaßung. Pünktlich zu unserer Ankunft holte eine Garnison marktschreiender Drachenpiloten ihre Windvögel ein. Marktstände wurden eingeklappt. Ich hoffe, es hing eher mit der fortgeschrittenen Zeit und weniger mit uns zusammen.
Auf dem Rückweg zum Brummi fahren wir jetzt also, in Gedanken bei den Robben und die Rucksäcke überladen von einem etwas ausgearteten ALDI- Spontaneinkauf, unsere Kreise über die Krakenarme und wähnen uns in der Kulisse einer in die Jahre gekommenen Version von GTA (an Passanten hat man komplett gespart, ansonsten ist die Grafik für ihre Zeit schon ok, das Ambiente lässt auf halsbrecherische Verfolgungsjagden und Hinterhof- Gangs schließen) und hoffen, dass man uns Bescheid gesagt hätte, wenn das nahe AKW größere technische Schwierigkeiten und man die Gegend deshalb evakuiert hätte.
Bis man uns hier rausholt machen wir noch mal den Grill an und versuchen die Krake mit Opfergaben milde zu stimmen.
Morgen, beschließen wir, ist Strandtag. Wenn es nicht wirklich ein Atomunfall war, jedenfalls. Und falls doch, ist es jetzt eh zu spät, der Betonkrake zu entkommen.


