Omaha Beach

“Come! Over here!“ schreit die Männerstimme aus dem Lautsprecher über mir. Gewehrsalven dröhnen. Granaten explodieren. Männer brüllen wild durcheinander. Ich greife nach zwei Zeitungsseiten. Auf Aluminium gedruckt stecken sie in einem Regal neben mir. „JOUR DE VICTOIRE“ titelt die eine, „L’ ALLEMAGNE A CAPITULÈ“, die andere Titelseite.

Heute ist der 08. Mai 2023. Das Ende es zweiten Weltkriegs jährt sich zum 78. Mal. 

Ein guter Tag für einen Besuch in einem Museum wie diesem. Langsam bewegen wir uns durch die Ausstellung im „Operation Overlord“ Museum, ergriffen von den Exponaten und beeindruckt von der Tiefe der Dioramen.

Am Ende der Ausstellung kommen wir in einen langen Gang. An den Wänden hängen großformatige Portraits von alt gewordenen D-Day Veteranen bei Jahrestagen am Strand von Omaha Beach. daneben in klein Fotos von damals. Stolz stehen sie da, in ihren Uniformen mit ihren Abzeichen. Kurze Texte neben den Bildern erzählen uns von ihren ganz persönlichen Erinnerungen an die Operation Overlord. Heldengeschichten finde ich keine. Stattdessen lese ich grausame Schilderungen ängstlicher junger Männer, von im Wasser treibenden Leichen, zurückgelassenen verwundeten Kameraden, von der Suche nach Deckung im Angesicht des eigenen Todes. Es geht ums Töten und getötet Werden.

Ich muss schwer schlucken und merke, dass ich mich den Portraits kurz abwenden möchte. Mit einem Klos im Hals gehe ich ein paar Schritte an den Fotos entlang, entscheide mich dann aber, weiter zu lesen. Ich habe jetzt zwar einen kleinen Eindruck, wie dieser Morgen im Juni 1944 abgelaufen sein könnte. Was die Soldaten am D-Day wirklich erlebt haben? Ich kann es mir in den dunkelsten Gedanken nicht ausmalen. 

Wir haben das Ende der Ausstellung erreicht. Im obligatorischen Souvenierladen staune ich über D-Day Tassen, Klemmbausteinbunker und niedlichen Bärchen mit „Bruchpilot“- Aufdrucken. Dass hier viele Amerikaner shoppen, ist recht leicht zu erraten.

Nach dem Besuch des Museums entschließen wir uns, wenigstens noch einen kleinen Rundgang über den nahen amerikanischen Soldatenfriedhof direkt an der Steilküste zumachen. Dort kann ich die Eindrücke aus dem Museum langsam sacken lassen. Um mich herum werden Busladungen amerikanischer Touristen von ihren Guides herumgeführt. Im Hintergrund klingt vom Memorial her als Glockenspiel The Star-Sprangled Banner.

Zum ersten Mal heute bricht die Sonne durch die Wolken und der Strand von Colleville-sur-Mer, Omaha Beach, über den alle hier aufs Wasser blicken, könnte kaum beschaulicher aussehen. 

Nachdenklich, demütig, radele ich zum Brummi zurück. Aus der Schiebetür kann ich Omaha Beach weit überblicken. Neben dem Stranzugang ragen Reste von Wehrmachtsstellungen aus den Klippen, „wie das eben so ist“ an der normannischen und bretonischen Küste. Immer wieder schleicht sich der Gedanke ein, dass von hier oben aus die Soldaten auf den Portraits beschossen und tausende von ihnen getötet wurden. Hier, auf dieser wunderschönen Klippe, mit diesem zauberhaften Blick über dieses unschuldige Wasser, fand soetwas wie ein Anfang vom Ende des zweiten Weltkriegs statt und mein Gehirn hat echt Schwierigkeiten, die Schönheit der Gegend und ihre furchtbare Geschichte gleichzeitig zu verarbeiten.

In den letzten zwei Tagen habe ich ein bisschen mehr verstanden, was hier damals passiert ist. Begreifen werde ich es wohl nie können.

Angers – Wandteppich der Apokalypse

Heute sind wir zum ersten Mal auf dieser Reise recht spontan. 

Als wir morgens in Saumur die Fahrräder auf den Brummi laden haben wir zwar eine Vorstellung, welcher Platz es für den Abend werden könnte, reserviert haben wir allerdings noch nicht. Wir verlassen uns auf die Nebensaison und die Menge an Alternativen.

Nahe Saumur möchte ich noch die Unesco Welterbestätte „Troglodytes et sarcophages„ besuchen. Das Navi allerdings hat seine Hausaufgaben gemacht und verrät, als wir losfahren, dass die Höhlen dienstags Ruhetag haben. Hätten wir so ein Google damals beim Frankreich- Schüleraustausch schon gehabt, hätte der Französischlehrer in dem eigens gemieteten Reisebus vor dem montags geschlossenen Freilichtmuseum Hagen nicht ganz so belämmert ausgesehen. Im Gegensatz zu ihm damals haben wir den charmanten Vorteil, uns vom Handy auch gleich einen Kulturausflugsplan B vorschlagen lassen zu können.

Glo und Google einigen sich auf einen Besuch der Festung von Angers. Dafür sprechen ihre verkehrsgünstige Lage auf halber Strecke ans Meer (die der Festung, nicht die der Glo) und ihre 4 1/2 Google- Sterne (äh: auch die der Festung…). Denn: seien wir ehrlich, nach anderen Kriterien sind wir zwei Geschichtsbanausinnen auch nicht in der Lage, unter den unendlichen Schlossbesichtigungsmöglichkeiten längs der Loire die Beste auszusuchen.

Als wir Angers erreichen bin ich geneigt, für die miserable Parkplatzsituation gleich einen halben Google- Stern abzuziehen. Rings um die Festung findet sich nur mit dreimal im Kreis Fahren ein Platz für den Bummi. Da hätten die… äh… Angerer Festungsbauer (ich gendere hier mal nicht, so viele Maurerinnen dürften damals den Bumms hier nicht hochgezogen haben…) aber ein wenig zugunsten eines Parkplatzes am Garten sparen können.

Mit zwei Tickets und einem deutschen Flyer bewaffnet nehmen Glo und ich in einem Handstreich den Innenhof der recht stattlichen Festung ein. So leicht kam man vierzehnhun… damals irgendwann vermutlich als deutsche Touristin nicht hier rein. Wenn man vierzehnhundertdings überhaupt einen Brummi hatte, der einen hätte zur Festung fahren können. Und einen Parkplatz musste ja auch noch frei sein.

Glo steckt jedenfalls sofort die Nase in den Flyer und verkündet, dass wir 12 Punkte abzuhaken haben, um als Angerer Festungsexpertinnen hier wieder raus zu gehen. Zwölf, denke ich, sind ganz schön viele. Ich meine: alte Steine hier, Garten dort, da ne Kapelle. Zack, feddich, Festung. Um meinem Tour Guide nicht gleich die Motivation zu rauben schweige ich höflich und folge zu Punkt 1. Los geht‘s. „Hier stehen wir vor dem… kacke! Ich hab mein Portmonee im Auto vergessen!“ Ups. Nach ein wenig hin und her überlegen entscheidet Glo todesmutig, ans Gute zu Glauben und nicht noch einmal zurück zum Brummi zu latschen. Von nun an mischt sich unter Glos Vorträge über Gärten, Wehrgänge und Wohngebäude, die sie mir hochprofessionell aus dem mediocre in Deutsche übersetzen Flyer hält, solange dann und wann ein: „Manno! Oder geh ich das besser doch noch holen?“ bis wir die Festungsmauer erklimmen und uns beim Blick auf unser fahrendes Home und zugleich Castle von der Unversehrtheit sämtlicher Brummischeiben überzeugen können.

Im Inneren der alten Gebäude haben wir inzwischen etwas über die Geschichte der Wandteppiche erfahren. Ich wüsste wenige Situationen im Leben, in denen mich mittelalterliche Wandteppichstories aus der Reserve gelockt hätten. Hier allerdings stehen wir, so verspricht ein ansprechend designtes Plakat hinter der ersten Tür, auf dem eine als Comic gezeichnete Frau mit einem Schild einen feuerspeienden Drachen abwehrt, vom „Teppichzyklus der Apokalypse“ nur 50 Meter entfernt.

Apokalyptische Wandteppiche? Aus dem Mittelalter? Ihr dachtet wie ich bisher, der Place Dauphine mit den Pétanquespielern in Paris sei die Zufallsentdeckung der Reise? Ihr wisst offenbar nichts über apokalyptische Wandteppichwebekunst.

Wir folgen also der Ausstellung, die sich freundlicherweise an verspielte Gemüter wie unsere wendet, lernen Einiges über Wolle und das Teppichweben an sich, über den wärmenden und schmückenden Zweck von Wandteppichen und Glo schlägt mich vernichtend in einer Partie „Wer ist es?“, in der sie meine Identität als „Cathérine la cardeuse“ in wenigen Fragen enttarnt.

Wieder im Hof habe ich dann allerdings genug alte Steine gesehen (vielleicht wirkt auch die Enttäuschung über die Niederlage nach?) und schlage Glo vor, den Rest ihrer Liste alleine abzuhaken, während ich mir ein Plätzchen suchen und statt alter Steine Menschen beobachten könnte. In strenger Tour-Guide-Manier besteht sie allerdings darauf, den Finalen 12. Flyer-Punkt nun aber auch noch abzuhaken. Seufzend raffe ich mich, obwohl ich sicher bin, alles über Festung und Teppiche aufgeschnappt zu haben, was ich für mein weiteres Leben so brauche, auf und trotte ihr tapfer hinterher.

Schon leicht geschafft liest Glo also vor: „12: Die Galerie der Apokalypse: Diese L-förmige Galerie wurde in der Mitte des 20. Jh. an der Stelle von zerstörten Gebäuden errichtet und 1996 umgebaut. Sie birgt den monumentalen Wandteppichzyklus.“ Die Erläuterungen zum Wandteppichzyklus der Apokalypse auf der Rückseite des Faltblatts enthält sie mir vor. Dann betreten wir ein Glasfoyer, das mir für ein paar muffige Teppiche als reichlich übertrieben und zu dem sonst eher bodenständigen Ausstellungsambiente der Festung nicht so recht zu passen scheint. 

Durch eine unscheinbare Tür kommen wir schließlich hinter einer französischen Rentnergruppe in einen L-förmigen Rau. Dort bleiben wir, verdattert und demütig, stehen. Denn nur zwei Meter vor uns hängt plötzlich tatsächlich ein meterhohes, schier endloses Kunstwerk. Der Wandteppich. Was wohl den Herzog 1373 geritten hat, so einen Teppich- Kawenzmann in Auftrag zu geben? Ich stelle mir das Gespräch etwa so vor: „Einmal die Offenbarung des Johannes als Teppich zum Hinhängen bitte! Maße: Ach, wat soll der Geiz, machen Se mal so 100 Meter, so ne Festung hat ja das eine oder andere Zimmer…“.

So schlendern wir also, flüsternd und staunend, dran längs, an diesem riesigen biblischen Wandtattoo und schicken demjenigen dankbare Grüße, der beschlossen hat, dass die Höhlen bei Saumur dienstags Ruhetag haben.

Auf dem Rückweg zum sicher eingeschlossen Portmonee entschuldige ich mich aufrichtig bei Glo dafür, dass ich von ihrer zwölfteiligen Führung beinahe kurz vor dem grande Finale abgesprungen wäre. Das wäre wirklich ein Fehler gewesen.

Dann drücken wir, soweit es die Sorge vor den mutmaßlich horrenden bretonischen Bußgeldern zulässt, weiter in Richtung Westen. Als wir um 17.56 mit hektischem Schweiß auf der Stirn vor dem Campingplatz bei Prévailles parken, um vier Minuten vor Rezeptionsschluss noch einen Platz mit Meerblick zu reservieren, ist mein Feuer für die Wandteppichapokalypse bereits wieder erloschen. 

Aber einmal mehr ist bewiesen, dass man spontanen Ideen (ok: und viereinhalb Sternen auf Google Maps) folgen sollte, um aus Versehen auf den Wandteppich der Apokalypse zu stoßen.

Saumur – raus aus dem Gewimmel

„Noch ein bisschen mehr Hund, dann wird‘s braun!“ sagt Glo. Ich stelle den Kocher ein wenig heißer und gieße einen Schluck Teig in den Ridgemonkey. Nach zwei Tagen Paris, in denen wir nicht selbst gekocht haben, steht heute zum ersten Mal der Gaskocher vor dem Brummi.

Bei Pfannkuchen mit Nutella beenden wir Tag drei unserer Reise. Heute Morgen haben wir Paris hinter uns gelassen, die hupenden Autos, die Menschen, die fahren, als wollten sie partout alle Vorurteile verwirklichen, die eimergroßen Schlaglöcher in den Stadtautobahnen, all das haben wir eingetauscht gegen die Niedlichkeit der Loire.

Als wir auf den Campingplatz einbogen ploppte wie bestellt das Schloss von Saumur im Hintergrund auf. Vorne trug die Loire beschaulich plätschernd historische Holzboote flussabwärts und um unseren Stellplatz herum zwitscherten die Vögel, als wollten sie das Autobahncampingplatzambiente der ersten beiden Nächte zügig ausgleichen.

Passend zur gemütlichen Szene radelten Glo und ich also heute nur einmal über den Fluss, hoch zum Schloss, genossen Panorama und Ruhe und setzten uns dann, wie wir es vorhatten, gemütlich vor den Brummi. 

Und nachdem der letzte Pfannkuchen gewendet und der Kocher verstaut war feierte das Open Air Brummikino seine Premiere und wir schauten, immerzu über den Irrsinn dieser zugleich unfassbar witzigen und übertriebenen Anschaffung kichernd, mehr oder weniger dick eingemummelt vor der Brummitür der Bergwacht Ramsau dabei zu, wie sie heute in Saumur die am Abend zuvor in Paris zurückgelassenen Verletzten rettete.. 

Morgen werden wir das erste Mal so richtig ausschlafen, bevor wir nach nur einer Nacht an der Loire weiter ziehen wollen, Richtung Westen, bis irgendwo das Meer kommt.

Einen Platz haben wir nicht reserviert. Aber jetzt, in der Nebensaison, sollte sich wohl einer finden.

Paris 2/2 – Den gibt‘s ja wirklich!

„Erstaunlich!“ sagt Glo, als wir um die Ecke biegen, „Den gibt´s ja wirklich“. Wir sind offenbar nicht die Einzigen, die sich davon persönlich überzeugen wollen. Vor, neben, hinter uns zücken tausende Menschen staunend ihre Handykameras.

Bisschen unpraktisches Geschenk, denke ich. Muss man ja auch Platz für haben. Für mich wärs nix. Hier allerdings passt er ziemlich perfekt hin, dieser monströse Stahlkoloss. Größer als ich ihn mir vorgestellt hatte ist er jedenfalls. Und elegant. Sehr elegant.

Mit der GoPro im Anschlag manövriere ich zwischen den Plastekitscheiffeltürmchenverkäufern in Richtung Turm. Im Augenwinkel beobachte ich, wie die Männer mühelos größere Mengen Plastiktürmchen unters staunende Volk bringen. Das Portfolio reicht von der bescheidenen Schlüsselanhängervariante für einen schmalen Euro bis zu Highend- Deluxeversion für das 16fache. Diese allerdings begeistern den Betrachter mit einer batteriebetriebene LED-Blitzeblinkfunktion. Wer kann, der kann…

Wir widerstehen knapp der Nippes-Versuchung und heben den Blick von den Displays in Richtung Original. Allein dem Zufall haben wir zu verdanken, dass wir uns dem Spektakel von hinten nähern und jetzt diesen beeindruckenden Blick haben. Oder ist das hier vorne? Weiß das jemand? Da stehen wir also eine Weile mit toller Aussicht über den terrassenartigen Park, fotografieren, staunen und beobachten wie Nippesverkäufer, Touristen und Taschendiebe ihrem Tagewerk nachgehen. Im Park versuchen Hütchenspieler aufgesetzt begeistert über horrende Gewinne Opfer zu akquirieren, ein paar Meter weiter scheuchen Polizisten mit Blaulicht und Horn übervorsichtige Selfiestickbesitzer von der Kreuzung. 

Auch wir streifen weiter, lassen den Turm hinter uns, wenden den Blick dabei aber immer wieder nach oben. Hier, nahe des Besuchereingangs, treffen wir auf vier schwer bewaffnete Soldaten, die in Carmouflage mit Maschinenpistolen und Plattenträgern patrouillieren. Bis auf diese Vier scheinen die Kollegen es aus Gründen vorzuziehen, sich vor den Touristenmassen in ihren Fahrzeugen zu verstecken. Die Soldaten bleiben von nervigen Touristenfragen offenbar unbehelligt. Die MPs wirken. 

Nach einem Mittagsstopp (klar, landestypisch gib`s Pho und Bratnudeln) lassen wir uns auf dem Weg Richtung Norden weiter treiben. Als wir an der Pont Neuf die Seine überqueren stoßen wir zufällig auf den Place Dauphine. Zwischen chicen Cafés werfen Grüppchen von Parisern ihre Pétanque Kugeln mehr oder weniger geschickt hinter den Schweinchen her. Hätten wir nicht noch ein Ziel gehabt, ich hätte hier ewig sitzen und der Mischung aus Gemurmel und dem Plok Plok der Kugeln zuhören können.

Entlang der Seine zieht es uns in die Metro in Richtung Sacré-Cœur. Auch als zwei blutige Paris-Anfängerinnen haben von dem ganz chicen Ausblick über die Stadt gehört (Spoiler: wenn wir das wissen, wissen es auch alle (!) anderen…) und finden, der könnte unseren Tag doch gut abrunden. Also steigen wir nahe der Seine in die Metro und beobachten kopfschüttelnd, wie im Bahnhof Abbesses die Menschen lemmingartig in den Fahrstuhl drängen. Alle zu faul für die paar Treppen aus der U-Bahn im Gegensatz zu uns… und den anderen dümmlichen Touristen, die sich fürs Treppenhaus entschieden haben. Ungewöhnlicherweise hat der Architekt sich für eine Wendeltreppe entschieden. Unfreiwillig habe ich in unserem Grüppchen die Pole- Position und stapfe also nun, ohne es zu ahnen, eine schier endlose Kurve Stufe für Stufe für Stufe nach oben. Langsam schwant mir, dass man von Sacré Cœur aus deshalb einen so schönen Ausblick hat, weil es sich auf einem Hügel befindet. 

36 Meter, sagt Wikipedia, überwinden wir keuchend, begleitetet vom Schnaufen der Touristen hinter mir, die aus Verzweiflung inzwischen begonnen haben, Stufen zu zählen. Dass wir noch lange oben sind wird mir schlagartig bewusst, als ich auf Google Maps die Zahnradbahn erahne, die zur Basilika pendelt. Ich entscheide mich, Glo diesen Fun Fact aus Motivationsgründen zu verschweigen. Dann stapfen wir weiter, bis die Mühe mit einem fantastischen Ausblick über die Dächer dieser unglaublichen Stadt belohnt wird. 

Auch hier stehen wir zwischen den obligatorischen Nippesverkäufern und knipsen und staunen und filmen den Ausblick über die hunderttausende Dächer, und ich fühle mich sehr, sehr klein, als mir klar wird, wie unmöglich es ist, diese Stadt überhaupt auch nur ansatzweise als Touristin zu erfassen. Ein vergleichbarer Ausblick wird schwer zu finden sein. Der über New York war ähnlich, aber doch auch ganz anders.

Die Entscheidung, weiterzuziehen, nimmt uns schließlich ein Straßenmusiker ab, der zwar sehr geschickt darin ist, sein E-Piano aufzubauen, dann aber dermaßen tragisch daran scheitert, es zu spielen, dass wir fluchtartig Montmartre verlassen, um keinen Hörsturz zu erleiden. Einmal im Leben hätte ich gern das Selbstbewusstsein wie dieser Schwachkopf, der sich feiertags abends an den belebtesten Platz der Stadt hinter ein Klavier setzt, was er nicht spielen kann, um dazu ein Lied anzustimmen, das er nicht singen kann.

Auch für uns geht es fortan steil bergab, zurück in die Metro, in eine Regionalbahn und einen Bus, der uns direkt vor den Toren unseres Campingplatzes absetzt. 

Noch eine Nacht an der A4, dann ziehen wir weiter, 300km nach Westen, an die Loire, wo wir den zwei Tagen in Paris große Beschaulichkeit entgegen setzen wollen.

Der Abend endet mit der Premiere des Brummi Kinos. Der frisch erstandene Beamer erweist sich als vorabendseriengeeignet. Als die Bergrettung Ramsau den Fall gerade zur Hälfte gelöst hat, verlassen uns aber die Kräfte und wir entscheiden, dass der Rettungshubschrauber morgen weiterfliegen muss.

Gute Nacht, Paris!

Paris 1/2 – Erstaunlich

„Erstaunlich!“ sage ich, als wir aus Vincennes in Richtung Coulée verte René-Dumont radeln. „Hier kann man ja besser Fahrradfahren als letztes Jahr in Stella Plage.“ Der Coulé verte, das „grüne Band“, ist eine ehemalige Bahnlinie, die direkt ins Stadtzentrum führt. Bahntrassenradeln, nicht das Erste, an das man denkt, wenn man nach Paris reist.

Todesmutig haben wir also dem Internet geglaubt, dass es möglich sei, vom Camping Paris Est an der Marne durch den Wald von Vincennes mitten nach Paris zu fahren. Und das auch zu überleben. Nach der Anreise von Zuhause ist uns nach ein wenig Bewegung, außerdem sind wir neugierig auf die Stadt, also verlieren wir nach dem Einchecken keine Zeit, heben die Räder vom Brummi und strampeln los. 

Bis auf wenige Meter können wir unbehelligt von Autos und Bussen,auf separaten Radwegen bis an die Seine und quer durchs Pariser Stadtzentrum fahren. Fast durchgehend sind die Radwege baulich von der Fahrbahn getrennt. Wo das noch nicht der Fall ist, halten uns Leitbaken den Verkehr vom Leib. Paris scheint sich entschieden zu haben, den Autos Platz wegzunehmen und ihn den Fahrrädern zu überlassen und allein dafür muss man die Stadt schon ein kleines bisschen mehr mögen, als sowieso.

Um hier heutzutage mit einem Auto rein zu fahren muss man entweder komplett verrückt sein, Stau mögen oder gern hupen..

Um einen allerersten kleinen Einblick in den Wahnsinn des Stadtzentrums zu erhaschen strampeln wir in zweiter Reihe nördlich der Seine bis in den Marais. Dort essen wir bei Tata Burger, einem offenbar queeren Burgerladen, Burger und Frites, bevor unsere Route uns durch den Schlosspark des Louvre auf die südliche Seine- Seite führt. Entlang an den zahllosen Läden der Bouquinisten am Gehweg, noch immer vor den hupenden Autos baulich geschützt, gehts zurück Richtung Osten. Als wir den Wald von Vincennes erreichen atmen wir durch. 

Was ist das bitte für eine verrückte Stadt? Wie groß sind die Parks? Wie viele hunderttausende Touristen wuseln wild murmelnd zwischen den weltbekannten Sehenswürdigkeiten, alle auf der Suche nach denselben Fotos… 

Morgen wollen wir uns ohne Fahrräder selbst noch tiefer ins Getümmel wagen, selbst mitwimmeln und murmeln. Und die typischen Fotos, die machen wir ganz bestimmt auch.

Torsten

Der Regen peitscht über die Häuser im Dorf. Schräg von der Seite schlagen dicke Tropfen auf meine eiskalten Wangen. Ich wende den Kopf ab und kneife die Augen zusammen. Fies ist es heute hier draußen. Richtig fies. Die blau- weiße Regenjacke klebt an meinem Pullover, die Hände werden langsam kalt. Ich werfe meine Torwarthandschuhe neben die Eckfahne, dann laufen wir los. Von der Fahne schräg rüber an die andere Seite der Mittellinie, rechts herum, am Tor entlang und unserem Start vorbei wieder quer über den Platz, dann andersrum. Ich weiß nicht, wie oft wir das jetzt machen werden, ich weiß nur, dass ich Anschluss halten will, wenn der, der vorweg läuft, auf den Querbahnen das Tempo ordentlich anzieht. „Los! Kommt!“ ruft Torsten dann, und das Geräusch, das die Ärmel seiner Regenjacke beim Laufen machen, wird hörbar schneller. 

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“Goycochea wusste alles”

Sommer 1990. Ich sitze mit einer Schale Pistazien auf dem Schoß auf der Treppe eines kleinen holländischen Ferienhauswohnzimmers. Über die Köpfe meiner Eltern starre ich gebannt auf den Röhrenfernseher. Deutschland spielt. Die frisch wiedervereinigte Mannschaft rund um den Kaiser, die einige für “auf Jahre hinaus unschlagbar” halten, geht raus, spielt Fußball und zieht ins Finale ein. Ich träume davon, auch so zu fliegen wie Ilgner. Von hier, von der Treppe aus, sehe ich ihn besser als im Stadion. Ich bestaune sein lila Trikot und seine Handschuhe. Den Mund krebsrot von zu vielen aufgeregt geknusperten Pistazien freue ich mich über Kohlers Grätschen und Häßlers Dribblings und darüber, dass ich noch aufbleiben darf, als Andi Brehme gegen Goycochea flach ins Eck verwandelt.

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Die große Stadt

“Könnte auch Frankfurt sein” denke ich laut, als Lisa und ich unsere Koffer aus dem Berliner Ostbahnhof ziehen. Ich muss kurz stehenbleiben und überlegen, wie das hier letztes Mal aussah. Der Blick in Richtung Warschauer Straße fällt jetzt auf kleine Skyline. Hotels und Firmen wie Mercedes Benz und Zalando residieren hier, in hohen Häusern aus Glas, Beton und Stahl. Ich hatte diese Gegend als Brachfäche oder zumindest als Großbaustelle in Erinnerung. Irgendwann war dann die O2 World gebaut worden, dann entstand drum herum ein Klotz nach dem anderen. Inzwischen ist sogar ein Teil des Spree- Ufers hinter der East- Side- Gallery bebaut worden und mich würde nicht wundern, wenn man sich bei so viel Berliner Bauentschlossenheit als nächstes entschiede, die Oberbaumbrücke gegen ein die Spree überspannendes Bürogebäude auszutauschen.

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Da hat man was Eigenes!

Blamier dich jetzt nicht, Aenni. Versuch irgendwie souverän zu wirken, führe ich ein gedankliches Selbstgespräch unter meinem Helmchen, als ich am Nachmittag auf dem Hof des Motorradhändlers neben meinem neuen Mopped stehe. Dass diese Kiste ziemlich hoch ist, war mir klar, dass ich mich ein bisschen strecken muss um mein rechtes Bein irgendwie über die Soziussitzbank zu bugsieren auch. Wäre halt schön, wenn ich mich nicht gleich beim ersten Losfahren kolossal auf die Schnauze lege. Mit einem leisen: „Urgs!“ erreiche ich kurz darauf mühevoll aber unverletzt meine Sitzposition, stelle die Spiegel ein und starte den Motor. Null Kilometer zeigt das Tachometer, und ich bin sehr gespannt auf die ersten 30, die mich jetzt mit einem Umweg über die Dörfer, die Autobahn meidend, nach Hause bringen sollen. Eher gesagt bin ich noch gespannter auf die ersten zwei bis zur Tankstelle, zu der ich mühsam versuche, mir den Weg zu merken.

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Level Up!

„Du machst das gut, mach einfach weiter so!“ gibt der Fahrlehrer mir mit, als ich neben ihm anhalte. Er sammelt die Hütchen ein, zwischen denen ich gerade herumgekurvt bin. Ich atme kurz durch. Dann schickt er mich wieder los: „So. Komm: Ausweichen ohne. Kannste locker!“. Er hält mir seine Faust hin, damit ich meine dagegen dotze, und schickt mich an die Startlinie. „Hau rein!“ quäkt es kurz darauf über Funk in mein Ohr, dann beschleunige ich, der Fahrprüferin entgegen, auf 50 und mache, was ich geübt habe. Kupplung ziehen, links, rechts. Anhalten. Feddich.

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